meine Musik – Alma Mahlers publizierte Lieder und ihr Entstehungskontext
Obwohl zuvor den künstlerischen Wert ihrer bis dato unpublizierten Kompositionen nach partieller Sichtung als ernstzunehmend gewürdigt hatte (, S. 731 und 725), hatte er seiner zukünftigen 1901 ein „‚Komponierverbot’“ (, S. 112) als Bedingung für das gemeinsame Eheleben auferlegt: „Du schreibst – Dir und meiner Musik […]. Und da muß ich leider von Dir anfangen und zwar bin ich in die eigenthümliche Lage versetzt, in einem gewissen Sinne, meine Musik der Deinen gegenüberzustellen […] gegen Dich zu verteidigen, und ins rechte Licht stellen zu müssen“ ( Nr. 14, S. 108; vgl. Nr. 14, S. 82). Ein harter Einschnitt für eine junge Künstlerin, die während ihrer Adoleszenz zahlreiche Kompositionen, vor allem Lieder, geschrieben hatte (zur Anzahl vgl. , S. 99, , S. 136, , S. 433 und ). Deren Fertigungsstand und Vollständigkeit sowie der Anteil etwaiger späterer Bearbeiter sind mangels Überlieferung – über die frühen Tagebücher hinaus – bis heute größtenteils ungeklärt.
Bereits AM3 vom 18. Juli 1910 zeigt, dass wahrscheinlich wieder ihren eigenen Kompositionen nachhing und diese ihr gar die Situation ertragen halfen. Ihre Kunst blieb also zunächst etwas sehr Vertrauliches. Erst durch die Aufhebung des „‚Komponierverbots‘“, nachdem ihre Liaison mit aufgedeckt wurde, nannte ihre Werke in den Briefen an wieder mit Stolz meine Musik. Der Ausdruck ich arbeite blieb fortan ein Indiz für ihre Komponiertätigkeit. Und garantierte vielfach seine kunstsinnige Unterstützung, wie etwa in WG47 vom 18. oder 19. August 1910: ein Mitschwingen, das könnte ich für Dich in Deiner Musik werden. […] Dein Genie soll Frucht bringen[,] Komponieren[.] Ein congeniales Verstehen viceversa. Noch zu Lebzeiten wurden 14 Kompositionen veröffentlicht: in den Sammlungen (), () und (). Handwerkliche Hilfe bekam vor allem durch ihren Mann , der zusammen mit ihr die Lieder auswählte und überarbeitete. Die Gewichtung von meiner und deiner Musik, gleichsam und Anteil an Liedern – auch der zweiten und dritten Sammlung – muss von Fall zu Fall unterschiedlich beurteilt werden (vgl. , , sowie und ).
Der Briefwechsel zwischen und gibt Einblicke in den Revisionsprozess der Lieder und vor allem Antworten auf die Frage nach der Entstehungszeit und der Intention der drei Sammlungen. Am 12. Oktober 1910 unterzeichnete einen Vertrag bei der Universal-Edition in Wien (, S. 462), die die „im Dezember“ veröffentlichte (). Doch erst am 18. Januar 1911 berichtete von der Publikation und der Uraufführung in Wien (AM57). Die Erstfassungen aller waren bereits um 1900 entstanden und sind bis spätestens Herbst 1910 von zur Publikation zu einem Heft zusammengestellt und teilweise gemeinsam revidiert worden (AM16 vom 10. August 1910): Eines der Lieder arbeite ich so vollständig um, dass es fast neu wird. […] ist rasend genau und streng und ich kann seinem Urtheil absolut trauen (AM22 vom 19. August 1910). Seit 14. August 1910 für ihn versprochen (AM19), sollte jedoch bis mindestens Juli 1911 kein Druckexemplar der ersten Liedsammlung von erhalten (vgl. WG157 vom 4. oder 5. Juli 1911 und AM78 vom 6. Juli 1911). Dies deutet darauf hin, dass das erstpublizierte Heft nicht primär für , sondern in Folge der überraschenden Wertschätzung durch und gemeinsamen Revision mit konzipiert wurde.
Kurz vor der Hochzeit mit im Jahr 1915 widmete ihm handschriftlich ein Druckexemplar der zweiten Sammlung, , wiederum aus der Universal-Edition: Meinem ewigen Mann[,] meinem ewigen Geliebten – eine Decke auf graue Zeiten – alle Gaben der Welt möcht’ ich besitzen – um diese Decke rot zu färben – damit die Vergangenheit restlos ausgelöscht werde […] (.: , Inv.-Nr. ). Die Sammlung als Ganzes kann als geheime Liebeserklärung an verstanden werden, wobei dann ursprüngliche Bezüge der Erstfassungen um 1900 umgedeutet wurden. Dieser Druck gibt – anders als derjenige der ersten Sammlung – Entstehungsdaten der einzelnen Lieder an, die sich in zwei Fällen auf Erstfassungen aus der Zeit um 1900 beziehen. Bei „“ ist jedoch zu differenzieren: der Anfang ist alt, aber alles andre neue. Das Lied wurde von abgeschrieben und dabei möglicherweise verändert (AM48 vom 23. November 1910). Auch eine Auseinandersetzung mit „“ ist im Zeitraum vom 17. November 1910 (AM47) bis 21. Januar 1911 (WG117) gut denkbar: Ich habe heute ein Lied fertig gemacht – bis jetzt gefällts mir noch ganz gut (AM47). und gemeinsame Auseinandersetzung mit „“ erscheint aufgrund der überlieferten Quellen sehr wahrscheinlich und ist im Zeitraum vom 16. November 1910 (AM47) bis 21. Januar 1911 (WG117) anzunehmen. Die Revisionsarbeit resultierte in zwei differierenden Liedfassungen, die sich beide von der publizierten Fassung deutlich unterscheiden ( und , S. 23f.): Bei der einen handelt es sich um ein flüchtiges Teilautograf mit Anteilen (: , Fonds La Grange-Fleuret, Alma-ms1-002-1), bei der anderen um eine von begonnene Reinschrift, die nicht vollendet wurde (: , Fonds La Grange-Fleuret, Alma-ms1-003). Die in der Sekundärliteratur vertretene These, der zufolge mit der Komposition von „“ erst im Jahr 1910 begonnen wurde, muss relativiert werden: Die Argumentation hinsichtlich einer eigentümlichen Textumdeutung in Form einer „Liebeserklärung an “ (, S. 465; vgl. auch , S. 194 und , S. 436) kann aufgrund einer von unter anderem verwendeten älteren Textquelle () nicht gehalten werden. Laut Druckexemplar stammen sowohl „“ als auch „“ aus dem Jahr 1911. Weitere Revisionen sind daher nicht auszuschließen, Kompositionszeiträume in 1911 jedoch nur noch zweimal nachzuweisen (AM83 vom 15. Juli 1911 und AM118 vom 10. Oktober 1911), nachdem dazu aufgefordert hatte (WG154 vom 3. oder 4. Juli 1911). Der 1915 unter dem Titel „“ veröffentlichte „“ nach Text von basiert wiederum auf einer Fassung aus der Zeit vor der Ehe – wurde jedoch wahrscheinlich ab August und wiederum am 23. November 1910 umfassend revidiert ( S. 2: , Fonds La Grange-Fleuret, Alma-ms1-005-2; S. 5: , Fonds La Grange-Fleuret, Alma-ms1-005-5): Jetzt arbeite ich an einem großen Gesang. – (Falke) (AM48; siehe auch sowie und ). Dass dieses erneute Aufblühen als kreativ Schaffende mit dem Tod , der entscheidende Mentor und das Korrektiv, abhandengekommen war, bestätigt ein Briefentwurf von nach Tod (): es ging mir wie ein Schwert durchs Herz, als Du neulich sagtest, Dein Komponieren wäre nun […] für lange Zeit zu Ende.
Insofern verwundert es nicht, dass sich erst 1915 – kurz vor der Hochzeit – wieder Hinweise auf eigene Kompositionen im Briefwechsel mit finden (Brief vom 27. Juni 1915 [, ] und Brief vom 2. Juli 1915 []): Als einziger der 1924 bei Weinberger publizierten ist „“ (auf ein Gedicht ) nachweislich nach dem Tod entstanden (vgl. das Einsamkeitslied, Brief vom 1. Juni 1915 [] und , S. 82). Weitere Kompositionen aus den können als durch motiviert, aber zu Lebzeiten komponiert verstanden werden: „“ und „“ basieren auf Erstfassungen aus der Zeit um 1900 (, 23. März 1901, S. 646 und 16. Juni 1900, S. 517) – ob diese Lieder 1910/1911 einer Revision unterzogen wurden, kann durch den Briefwechsel nicht belegt werden, allerdings wird in WG117 vom 19. bis 21. Januar 1911 ein Dehmelsche[r] Gesang genannt, was sich unter anderem auf bezogen haben könnte. Zu den beiden rahmenden Liedern „“ und „“ hingegen fand wahrscheinlich am 5. September 1910 Anregung, als sie diese zwei Gedichte von in einem Brief an wiedergab und dazu schrieb: Es lockt mich so (AM31). Demnach nahm sie beide Kompositionen frühestens im Winter 1910/1911 in Angriff, motiviert durch , der ihr mit Textzitaten daraus antwortete (WG95 vom 6. bis 8. November 1910). Im Februar 1911 ließ , wissen: „Fleißig ist und hat ein paar neue reizende Lieder gemacht, die von einem großen Fortschritt zeugen“ (, S. 426). Freilich war in den USA zunächst nicht im Stande gewesen, zu arbeiten (AM46 vom 8. November 1910), so dass sich der Zeitraum der Entstehung auf die Wintermonate vor Beginn der schweren Erkrankung am 20. Februar 1911 eingrenzt. Mit Hilfe des Briefwechsels lässt sich die Entstehung aller zu Lebzeiten erschienenen Lieder entscheidend erhellen.
Drei weitere Lieder, von denen zwei auf Basis von heutzutage verschollenen Liedabschriften Dritter () und eines auf Basis von Stichvorlagen zu einem geplanten, aber nicht realisierten Privatdruck aus der Zeit um 1900 erschienen sind (), sind kein Gegenstand dieses Briefwechsels. Sie wurden weder von noch zur Publikation ausgewählt, noch sind sie überhaupt von der Beziehung zu beeinflusst worden.
Bettina Schuster
Abb.: Alma Mahler, Widmung an Walter Gropius auf dem Innentitel von Alma Schindler-Mahler, Vier Lieder, Wien 1915.
Abb.: Alma Mahler und Gustav Mahler (Autograf), Ansturm, S. 1 (ca. 1910).
Abb.: Gustav Mahler (Autograf), Ansturm, S. 1 (ca. 1910).
Abb.: Gustav Mahler (Autograf): [Gesang am Morgen (sog. Erntelied)], Version „X“, S. 2 (ca. 1910).
Abb.: Gustav Mahler (Autograf): [Gesang am Morgen (sog. Erntelied)], Version „X“, S. 5 (ca. 1910). Die auf S. 2 (siehe Abb. bei Fußnotenzeichen D) mit „a“ und „b“ in blauem Buntstift markierten und mehrfach überarbeiteten Motive waren hier auf S. 5 offenbar zur wiederholten Einfügung vorgesehen. Es handelt sich um das zentrale musikalische Motiv aus der Zehnten Symphonie Gustav Mahlers, die er im Purgatorio (siehe Abb. bei Fußnotenzeichen B in Gustav Mahlers Zehnte Symphonie) sowie im Finale (siehe Abb. bei Fußnotenzeichen A in Gustav Mahlers Zehnte Symphonie) mehrfach verbal annotierte.